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 Analphabetin
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Analphabetin hoch (IdS).

Analphabetin Stefanie Kempers
wollte sich das Leben nehmen. Aus purer Verzweiflung.
                                  Foto: IdS

Panische Angst vor Buchstaben
Jahrzente lang lebte Stefanie Kempers (33) als Analphabetin.
Sie hütete dieses Geheimnis, wie ihren Augapfel.
Als sie vor einem Jahr aufzufliegen drohte, beschloss Sie,
dass ihr Leben nicht mehr lebenswert sei.
Heute lernt sie Lesen und Schreiben.

Von Tim In der Smitten

Niederrhein. Endlich ein richtiger Sommertag. Auch Stefanie Kempers (Name geändert) laufen Schweißtropfen von der Stirn. Trotzdem würde sie nie ein Hemd mit kurzen Ärmeln anziehen. Der Grund dafür liegt jetzt fast ein Jahr zurück. An einem trüben Tag im November beschloss die hübsche Frau ihrem Leben ein Ende zu setzen. Weil sie Angst hatte, dass ihr Gerüst aus Lügen, Seilschaften und Selbstbetrug zusammen bricht. Sie ging ins Badezimmer und schnitt sich tief in den linken Arm. Langsam wird ihr schwarz vor Augen und sie verliert das Bewusstsein. Als sie aufwacht, liegt sie im Krankenhaus. Ihre Mutter war zufällig vorbei gekommen und hat sie gefunden. „Ich hatte mit meinem Leben schon abgeschlossen“, sagt sie heute.

Stefanie Kempers ist 33-Jahre, geschieden und wohnt in Mönchengladbach. Vor neun Monaten wollte sie sich das Leben nehmen – weil sie nicht lesen und schreiben kann. Auch heute fällt es ihr schwer, über die Tat zu sprechen, aber sie möchte anderen, die in einer vergleichbaren Situation sind, Mut machen. Langsam zieht sie den Ärmel ihres roten Hemdes hoch und entblößt die schwulstartige Narbe an ihrem Arm. Dann hört sie plötzlich auf zu sprechen, greift nach dem bunten Patchwork-Kissen und presst es ganz fest an sich. „Das habe ich in Düsseldorf gemacht“, erzählt sie. 65 Tage war Stefanie Kempers in der Rheinischen Landesklinik. Dort hat man ihr geholfen, ihre Suizid-Gedanken zu verarbeiten.

Stefanie Kempers ist eine von hunderttausenden Menschen in Deutschland, die weder schreiben noch lesen können. Eine, die an Zeitschriften genauso scheitert wie an Telefonbüchern, Autobahnschildern und Fahrplänen. Wie viele Analphabeten es in Deutschland gibt, ist schwer zu sagen. Die Unesco spricht von mindestens einer, andere Quellen von bis zu vier Millionen Menschen. Wie viele es auch sein mögen, sie alle finden sich in einer von Buchstaben dominierten Welt nur schwer zurecht. Sie scheitern an Mietverträgen, Telefonrechnungen und bei Behördengängen. Solche Situationen lösen bei ihnen Panik und Schweiß-Attacken aus.

„Um nicht aufzufallen, kommen sie regelmäßig mit Händen oder geben vor, die Brille vergessen zu haben, um Formulare mit nach Hause nehmen zu können“, weiß Eva-Maria Weiner vom Landesverband Legasthenie in Kaarst. „Zu Hause fühlen sie sich sicher, dort können ihnen Familienangehörige helfen. So schlängeln sich Analphabeten durchs Leben.“ Hauptsache vorbei an der erdrückenden Macht, den die Buchstaben über sie haben. Immer verfolgt von der panischen Angst, enttarnt zu werden.

„Hört sich verdammt nach meinem Leben an“, sagt Stefanie Kempers. „Alles war eine einzige Inszenierung.“ Sie wurschtelte sich durch. Sogar den Führerschein hat sie gemacht und dafür alle 850 Prüfungsbogen auswendig gelernt. In der Schule war sie „die Doofe“. Seit der 1. Klasse hat sie Demütigungen, Verletzungen und schließlich Entmutigungen erfahren. „Das was du in dein Heft schmierst, kann man sofort in die Tonne drücken“, habe ihre Klassenlehrerin zu gesagt. Schließlich bekam sie in Deutsch Extra-Aufgaben. Auf dem Zeugnis stand bei diesem Fach nicht mehr „ungenügend“, sondern lediglich „erteilt“.

„Mit Dummheit hat Analphabetismus nichts zu tun“, sagt Eva-Maria Weiner. „Vielfach sind betroffene überdurchschnittlich Intelligent.“ Oft liege eine Nerven-Störungen zwischen Ohr und Gehirn oder ein Wahrnehmungs-Schwierigkeiten vor. Weiner wurde durch die Legasthenie ihrer eigenen Kinder mit dem Thema konfrontiert. Nach Schwierigkeiten und Enttäuschung, die sie in diesem Zusammenhang erlebt hat, baute sie in Viersen-Dülken mit der „Sprungtuch GmbH“ eine eigene Privatschule für Legastheniker auf. In mittlerweile fünf Zweigstellen, werden jährlich 300 Schüler unterrichtet.

Stefanie ging ohne Abschluss von der Schule. „Doofkopp“ wurde sie genannt. Ihr Vater, als Fernfahrer kaum zu Hause, kümmerte sich nicht um ihre Leistungen. Auch die Mutter erkannte die Not ihrer Tochter nicht. „Du heiratest ja bald“, waren ihre Worte. Doch Stefanie kompensierte ihre Defizite mit absoluter Zuverlässigkeit. So wurde aus der Aushilfskraft bei einem schwedischen Modehaus eine angestellte Dekorateurin. Schreibarbeiten erledigte ihr Mann zu Hause. Anweisungen las er ihr vor. Alles lief gut. „Bis die Neue kam und mich mein damaliger Mann verließ“, erinnert sie sich. Das war der Moment, an dem sie beschloss, nicht mehr leben zu wollen.

Nach der Zeit in der Klinik nahm sie sich vor, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Seit drei Monaten besucht sie nun einen Alphabetisierungs-Kurs. Auch ihr Arbeitgeber ist eingeweiht und hilft. Dass sich jetzt auch Kronprinzessin Victoria von Schweden als Legastheniker geoutet hat, lässt sie hoffen, das große Tabu „Analpabetismus“ endlich aufzubrechen.

STICHWORT

Legasthenie lässt sich mit einem Test,
dem „Bielefelder-Screening“ schon im Kindergarten feststellen. Bis zum Einschulalter ist der Defekt dann fast immer zu beheben. Kinder betroffener Eltern sollten in jedem Fall getestet werden, da das Syndrom erblich ist.
Test und Behandlung werden meist
vom Jugendamt übernommen.

Erwachsene müssen mit drei
Jahren Legasthenie-Schule rechnen.
Hier gibt es kaum Kosten-Hilfen.
Infos unter:
www.landesverband-legasthenie-nrw.de oder 02131-63993.

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